Geteert wurde erst

in den Siebzigern

Renate Wirthmann, AK Stadtteilgeschichte Ramersdorf e.V.

Wer etwas über die Geschichte von Ramersdorf erfahren will, der fragt am besten Renate Wirthmann. Seit 79 Jahren lebt sie selbst im Stadtteil und kennt ihn wie keine andere. Wirthmann ist wie ein wandelndes Lexikon, unterfüttert ihre Erzählungen mit Jahreszahlen: die erste Erwähnung von Ramersdorf war 1006 in einer Urkundenabschrift, 1864 die Eingemeindung in die Stadt, 1915 bis 1918 der Bau der Führichschule – die einzige Schule in München, die während des Ersten Weltkrieges gebaut wurde. 

Renate Wirthmann sitzt im Innenhof der Familie Huber, die vorne ihr Geschäft für Glaskunst haben. Früher war es eine Konditorei, „Café“ nennt Wirthmann es noch heute. Sie hat graue Haare, blaue Augen und erzählt begeistert die Anekdoten ihres Viertels. Sie gibt Stadtführungen für die Volkshochschule, beginnt ihre Tour am Karl-Preis-Platz und beendet die Führung am Innsbrucker Ring. Sie erzählt vom Schreinermeister Eder, der aber keinen Pumuckl hatte oder von Machtkämpfen zwischen Kirche und Kino. 

Der damalige Pfarrer Kifinger sei ein eigensinniger Mensch gewesen. Er hätte fleißig Briefe an die Soldaten an der Front geschrieben, aber auch Watschen ausgeteilt, wenn man in der Kirche mit seiner Sitznachbarin geschwätzt hat. Weil das „Marienlichtspiel“ in der Nähe der berühmten Wallfahrtskirche „Maria Ramersdorf“ stand, missfiel die Vergnügungsstätte dem Pfarrer schon wegen des Namens. Als das Kino noch den Film „Die Sünderin“ zeigte, der Skandalstreifen der prüden 50ern, in dem Hildegard Knef eine Prostituierte spielte und ihr nackter Busen ein paar Sekunden zu sehen war, eskalierte die Situation. Erst als wenige Monate später das Kino brannte und in Folge der Renovierung – und auf nachdrückliche Bitte des Pfarrers – in „Metro-Kino“ umbenannt wurde, wurde der Frieden wieder hergestellt.  

Früher war Ramersdorf ein Ort für einfache Leute, für Handwerksbetriebe und Bauernfamilien. Als Renate Wirthmann ihren Mann kennengelernt hat, sie zusammen auf ein Rendezvous gehen wollten, hat er sich gewundert: „Wo kommst du denn her, deine Schuhe sind so dreckig.“ Zum Tanzen hätte sie von da an ein Paar saubere Wechselschuhe mitgenommen: „Geteert wurde erst in den Siebzigern“, sagt Wirthmann und zuckt die Schultern.  

Die Stadtteilgeschichten sind noch heute ihr Hobby. Anfangs hat Wirthmann im Wirtschaftsarchiv der Stadt von den alten Firmen in Ramersdorf gelesen, Zeitungsberichte angeschaut und ihre eigene Erinnerung ergänzt. Vor knapp dreißig Jahren hat die Recherche eine professionelle Richtung eingenommen. Zusammen mit anderen, die ihr historisches Interesse teilten, hat sie 1992 den „Arbeitskreis Stadtteilgeschichte Ramersdorf e.V.“ mitgegründet. Zwei Jahre später war sie Vorsitzende. Ihre Verbündeten nennt sie die „Ramersdorf Urgesteine“, dabei ist sie selbst ein Teil von ihnen, denn Wirthmann hat ihr Viertel nie verlassen. 

„Alle konnten kommen. Die Geschichten waren einmal quer durchs Gemüsebeet“

Der „Arbeitskreis Stadtteilgeschichte Ramersdorf e.V.“ hatte zwischenzeitlich etwa 30 ehrenamtliche Mitglieder. Jeden Monat haben sie sich getroffen, wechselnde Ausstellungen geplant, beispielsweise „Ehemalige Ramersdorfer Firmen“. Der bekannte Kustermann hatte seinen Firmensitz in Ramersdorf, die Firma Zündapp und die Sauerkrautfabrik Durach. Regelmäßig haben Ramersdorfer*innen beim „Erzählcafé“ bei Kaffee und Kuchen zusammengesessen und von ihrem Schulweg erzählt, von dem Kramer mit dem Schnapsausschank um die Ecke, von der Frau aus der Mustersiedlung, die in adretten Klamotten dort ihren Cognac getrunken hat. Von den Geschwistern, von denen einer Palmen in Kübeln vor seiner Parfümerie aufgestellt hat und seine Schwester, die in ihrem Geschäft Wolle und Stricknadeln verkauft hat. „Alle konnten kommen. Die Geschichten waren einmal quer durchs Gemüsebeet“, sagt Wirthmann. „So habe ich auch welche kennengelernt, die den Kraut für Durach mit ihren Füßen gestampft haben. Nur, ob sie die vorher gewaschen haben, habe ich nicht gefragt!“

Wirthmann hat als Bankangestellte gearbeitet. Als junge Frau wollte sie eigentlich Karriere bei der Kriminalpolizei machen. Als sie ihrer Mutter davon erzählt hat, „wäre sie fast vom Stuhl gefallen“, sagt Wirthmann. Eine Frau auf Verbrecherjagd – das wäre damals nicht vorstellbar gewesen. Aber auch als Bankangestellte hat sie sich eines all die Jahre behalten: das Beobachten von Menschen, das Fragenstellen und die Spurensuche. Doch statt Räubern und Betrügern, ist sie stets der Vergangenheit auf den Fersen gewesen. 

„Wir brauchen die Jungen mit pfiffigen Ideen. Ich würde mich über einen Donut-Laden freuen.”

Bis 2019 hat der Verein die Vergangenheit in die Gegenwart geholt. 27 Jahre hat die Ramersdorferin gemeinsam mit den anderen Mitgliedern Zeitzeungnisse gesammelt. Zusammengetragen von Angehörigen und Familien. „Manche waren sehr stolz und haben sich gefreut, dass sich jemand für die Geschichte vom Familienbetrieb interessiert hat. Sie haben uns gerne Material gespendet“, sagt Wirthmann. Diese Fotos, Liebesbriefe, Schulhefte sind für Wirthmann wahre Schätze. Wegen der Auflösung des Vereins haben sie und ihre Kolleg*innen die Sammlung verschenkt. Mehr als 6.000 Fotos, Exponate und die Jahreschroniken des Vereins gehören mittlerweile dem Münchner Stadtarchiv, wo sie für die Nachwelt aufbewahrt werden. “Jeder der Interesse hat, kann sich dort melden”, sagt Wirthmann. Sie ist neugierig geblieben, kennt nicht nur die alten Geschichten, sondern weiß auch bestens über Neueröffnungen im Viertel Bescheid und will die nächste Generation motivieren: “Wir brauchen die Jungen mit pfiffigen Ideen”, sagt Wirthmann, lacht und verrät, dass sie sich über einen Donut-Laden freuen würde. 

Das Projekt work&act 2.0 wird im Rahmen des ESF-Bundesprogramms „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier – BIWAQ“ durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) und den Europäischen

Sozialfonds gefördert. BIWAQ ist ein Partnerprogramm des St dtebauf rderprogramms „Sozialer Zusammenhalt“, das mit Mitteln des Bundes, des Landes und der Landeshauptstadt München finanziert und umgesetzt wird.

Das Referat für Arbeit und Wirtschaft unterstützt BIWAQ durch das Münchner Besch ftigungs- und Qualifizierungsprogramm (MBQ).